Das Interview

3. Okt. 2022

Gespräch mit Natalie O’Hara, Francois Camus und Kim Langner über die Entstehung der Produktion „Alice – Spiel um dein Leben“

Wie seid ihr auf dieses Projekt gekommen?

NATALIE: Seit ich vor vielen Jahren das erste Mal von Alice Herz-Sommer gehört habe, war ich fasziniert von ihrem Optimismus, ihrer Menschenliebe und ihrer Weisheit. Auch sie mit über 100 Jahren noch so schön Klavierspielen zu sehen, hat mich tief berührt. Ich habe schon damals überlegt, ein Projekt über sie zu machen. Außerdem wuchs in mir der Wunsch, eine Pianistin zu spielen und so hatte ich 2018 die Idee eine Lesung mit Klavier zu entwickeln. Als ich Kim Langner bat, mir bei der Umsetzung zu helfen, hatte sie plötzlich die Vision, daraus ein Stück für mich zu schreiben. Und François Camus sollte es inszenieren. Als der von der Idee auch direkt Feuer fing, setzte das diesen ganzen Prozess in Gang. Und als dann auch noch Matthias Stötzel zusagte, uns bei diesem ambitionierten Projekt zu unterstützen, gab mir das den Mut, es wirklich anzugehen.

KIM: Natalie fragte mich, ob ich ihr für eine „Lesung mit Klavierspiel“ eine Strichfassung von der Biografie „Garten Eden inmitten der Hölle“ erstellen könnte. Ich wollte gerade „Klar“ sagen, da sah ich in einem Geistesblitz das Konzept vor mir: Ein Stück, in dem die Musik zum Spielpartner wird, Natalie in allen Rollen, allein mit Klavier, viel Pantomime . Also antwortete ich: „Nein. Ich schreib‘ dir ein Stück!“ Dass François das inszenieren muss, war ähnlich schnell klar.

FRANÇOIS: Kim hat das Stück schon mit mir als Regisseur im Hinterkopf geschrieben, was ein großes Kompliment ist. Wir hatten in der Vergangenheit bereits mehrfach in diesem Theatergenre zusammengearbeitet, als Regisseur und Schauspielerin – und umgekehrt. Wir teilen die Liebe zu dieser Art Theater und wissen, welche „Sprache“ da nötig ist. Mit Natalie wollte ich schon seit längerem zusammenarbeiten, wir waren bloß noch auf der Suche nach dem richtigen Material – und so hat sich alles wunderbar gefügt.

Wie lange habt ihr insgesamt daran gearbeitet? Ich weiß zum Beispiel von einer sehr wichtigen Reise nach Prag ...

NATALIE: Im Januar 2019 waren Kim und ich erstmal zusammen in Prag und Theresienstadt, im Sommer dann in Tel Aviv bei Alices Familie und einer ehemaligen Klavierstudentin. Ein Jahr später begannen François und ich mit einem Inszenierungsversuch der ersten Szene. Damals im Wohnzimmer und mehr als Test, aber es war schnell klar, wir sollten das verfolgen. Dann haben wir in Blöcken vorinszeniert, denn die spezielle Spielweise erfordert sehr viel Zeit in der Entwicklung. Im Sommer 2022 stand dann das Gerüst.

KIM: Allein meine Recherche hat über ein Jahr gedauert. Ich habe alles über Alice oder Theresienstadt in mich eingesogen: Literatur, Aufzeichnungen, Briefe, Filme, Aufnahmen … Habe in London und Israel Alices Familie, Weggefährten (Shoah-Überlebende, Freunde, Schülerinnen) getroffen und interviewt. Manchmal kam Natalie mit und wir haben zusammen die Originalschauplätze in Prag und Theresienstadt besichtigt.

Natalie, du spielst die Alice Herz-Sommer und viele Rollen mehr. Und vor allen Dingen spielst du auch Klavier in der Inszenierung. Was bedeutet dir das Klavierspielen in Deinem Leben?

NATALIE: Ich habe mit sieben Jahren angefangen Klavier zu lernen und es geliebt, aber ich wusste damals schon, ich will Schauspielerin werden. Eine Karriere als Pianistin war nie mein Ziel. Aber das Klavier blieb meine Leidenschaft, wurde mein Ausgleich und auch meine Kraftquelle. Besonders vor Vorstellungen spielte ich gerne, um mich zu sammeln und zu fokussieren. Und so haben mich immer mehr Menschen gehört und gesagt, ich solle doch etwas damit machen. Auch Kim war deshalb völlig überzeugt, dass ich das pianistisch schaffen würde – ganz im Gegensatz zu mir. Aber als klar war, das passiert jetzt wirklich, habe ich im Grunde versucht, ein Klavierstudium nachzuholen. Ich habe mit mehreren Klavierlehrern gearbeitet, mich mit Harmonielehre, Musikgeschichte, Stilistik, Hirnforschung zum Thema Effektives Üben, Auswendiglernen, Performance-Training usw. beschäftigt und natürlich viele, viele Stunden Klavier geübt. Ein extrem beglückender Prozess!

Hat sich dies durch das Projekt nochmal verändert?

NATALIE: Insofern, dass ich nun sehr viel zielgerichteter übe und extrem auf meine Finger aufpasse …

Wie ist deine Herangehensweise an die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Figuren?

NATALIE: Da die meisten Rollen historische Figuren sind, bedeutete das zunächst viel Recherche. In der Arbeit mit François entwickelten wir dann peu à peu für jede Rolle eine eigene Stimme, Körperlichkeit und einen Rhythmus. Dabei war der Ausgangspunkt, abgesehen von der notwendigen Unterscheidbarkeit, die Persönlichkeit und die akute psychologische Situation.

Hast du beim Spielen ein anderes Verhältnis zu Alice als zu den anderen Figuren?

NATALIE: Einerseits fühle ich mich von Alice getragen und begleitet und im Trubel der Figurenwechsel ist sie wie ein Zuhause für mich. Und natürlich bin ich „mit ihr“ am Klavier, und es ist ihre Geschichte! Andererseits erfordert jede Figur für die Dauer ihres „Auftritts“ meine volle Aufmerksamkeit und ich würde fast sagen Liebe, und viele der Rollen machen wahnsinnig Spaß zu spielen. Vor allem auch die Männerrollen und der sechsjährige Stepan.

Wovor hattet oder habt ihr am meisten Respekt in dieser Arbeit?

NATALIE: Abgesehen von der Verantwortung Alice gegenüber und der Dimension des historischen Themas, ist es eine ziemlich große künstlerische Herausforderung für mich. Anfangs dachte ich gar nicht, dass ich das kann. Weder die Spielweise – mit den vielen Rollen – noch das Klavierspiel auf dem Niveau einer Pianistin zu liefern. Aber immer, wenn ich vor Angst einen Rückzieher machen wollte, kam jemand und hat mich „weiter-geschubst“. Und die Klasse, Hingabe und Ernsthaftigkeit des gesamten Kreativteams, lässt mich nun sehr an dieses Projekt glauben und ist die wichtigste „Mutquelle“ für mich.

KIM: Ich bin seit Jahren mit Alices Familie befreundet. Dass sie in meinem Stück ihre „Gigi“, ihr Leben, ihren Humor, ihre Liebe zur Musik, wieder erkennen, war eine meiner Prioritäten.

FRANÇOIS: Ein Stück über eine Person der Zeitgeschichte ist immer etwas Besonderes.
Wir setzen Alice quasi ein Denkmal. Also versuchen wir so nah wie möglich an ihre Persönlichkeit zu kommen und ihr gerecht zu werden.

Welche Aspekte waren euch besonders wichtig in der Arbeit?

KIM: Dieser Theaterstil! In dem Schauspieler nur mit Talent, Pantomime, Humor, im fliegenden Wechsel und der gesamten Palette des Könnens einen Abend bestreiten. Der begleitet mich seit meinem Studium in Paris und zieht sich seitdem durch all meine Theaterarbeiten. Ich wollte schon lange selbst ein Stück in dem Stil schreiben.

FRANÇOIS: Genau. Dieser Stil macht den ganzen Unterschied, überträgt den Zauber, den Humor, die Poesie. Er erfordert aber ein eigenes Handwerk und unterliegt eigenen Gesetzen. Natalie musste diesen Stil in Windeseile verinnerlichen, damit sie sich zu hundert Prozent auf ihr Spiel verlassen, und notfalls auch improvisieren, kann. Denn als wäre das allein nicht genug, spielt sie nebenbei noch – auswendig – ein halbes Klavierkonzert. Das alles erfordert unglaubliches Können und Konzentration. Und Natalie hat sich das Ganze mit wahnsinnigem Fleiß, Spielfreude und Kreativität angeeignet. Das, was sie an diesem Abend liefert, ist phänomenal!

Eine große Qualität des Abends ist es, dass ihr es schafft, neben der Schilderung des ergreifenden Schicksals dieser Frau, ein gewisses Maß an Leichtigkeit in diesem Abend zu bewahren. Wie gelingt einem das? Was ist euer Gegengewicht?

NATALIE: Dass Alice Herz-Sommer trotz ihres schweren Schicksals eine so lebensbejahende, fröhliche Person geblieben ist, ist Teil ihrer Faszination. Ein Abend über sie muss dem Publikum auch Hoffnung und Lebensfreude mitgeben, alles andere würde sich falsch anfühlen. Und dazu ist es ja auch ein Abend über die Kraft der Musik. Die Schönheit der Musik bietet auch einen krassen Kontrast zu den Schrecklichkeiten um sie herum.

FRANÇOIS: Alice war ein unglaublich positiver Mensch, ein Sonnenschein, der ständig gelacht hat. Auch in den schlimmsten Zeiten ihres Lebens. Ihr ein Denkmal zu setzen ohne Charme und ohne viel Humor, wäre ganz falsch.

KIM: Genau. Ein Stück, in dem nicht gelacht wird, wäre kein Stück über Alice. Also habe ich schon bei der Konzeption komödiantische Szenen und komische Figuren entwickelt. Und ich wusste, François als Regisseur wird die perfekt in Szene setzen. Abgesehen davon, ist die Shoa ein so entsetzliches Verbrechen, dass man ein Stück darüber nur schwer ertragen kann, wenn einen nicht ab und zu etwas Humor erlöst – da darf einem auch mal das Lachen im Halse steckenbleiben.

DAS INTERVIEW FÜHRTE ANJA DEL CARO

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